Eine Augenkrankheit, die Corona-Zeit und mein Projekt »Welteroberung«
(Kapitel 17)
Wie gehe ich mit Problemen um? Das möchte ich an einem Beispiel aufzeigen, und zwar an einem unerwarteten Befund, den ich kurz nach meinem 61. Geburtstag bei einer Routineuntersuchung von meinem Augenarzt erhielt: Ich leide, wie ich erfuhr, an einer »epiretinalen Gliose«, einer Netzhautstörung. Dadurch hatte sich eine Membran oder ein Häutchen auf der Oberfläche des Netzhautmittelpunkts (Makula) gebildet. Auf dem rechten Auge sei die Krankheit fortgeschritten, aber auch das linke Auge sei betroffen. Im Extremfall werde die Erkrankung dazu führen, dass ich nicht mehr lesen könne, auch nicht mit der stärksten Brille der Welt. Jetzt müsse man noch nicht operieren, aber irgendwann werde das vermutlich notwendig werden. Auf meine Frage nach den Erfolgsaussichten erwiderte der Arzt: »Die Wahrscheinlichkeit, dass es gleich bleibt und keine Besserung eintritt, liegt bei einem Drittel, die Wahrscheinlichkeit, dass es durch die Operation besser wird, ebenfalls bei einem Drittel, und die Wahrscheinlichkeit, dass es schlechter wird, liegt auch bei einem Drittel.«
Ich konsultierte danach mehrere andere Spezialisten und vertraute mich schließlich einer Professorin in der Charité in Berlin an. In den beiden folgenden Jahren ging ich regelmäßig zur Untersuchung. Ich merkte, dass ich selbst mit meiner Brille nur noch mit dem linken Auge lesen konnte. Wenn ich das linke Auge zuhielt, sah ich mit dem rechten nur noch kaum entzifferbare Wörter in Schlangenlinien. Also entschloss ich mich zu einer Operation, die im Juli 2020, zwei Jahre nach der Erstdiagnose, stattfand. Die Professorin meinte, der Arzt, bei dem ich zuerst war, habe die Erfolgsaussichten einer Operation zu negativ eingeschätzt. Aber einen Prozentsatz für die Erfolgschancen wollte sie mir nicht nennen. Sie fügte nur hinzu, dass es oft ein halbes Jahr oder länger dauere, bis man den Effekt merke, und meist werde noch eine zweite, kleinere Operation notwendig.
Ein halbes Jahr später, am Heiligabend 2020, stand ich am Gabentisch direkt unter einer Lampe und hatte eine Weihnachtskarte meiner Freundin in der Hand. Ich hatte die Lesebrille vergessen und war überrascht, dass ich bei hellem Licht mit dem operierten Auge sogar ohne Brille lesen konnte. Eine schöne Weihnachtsüberraschung! Die Ärzte nennen meine Art, wie ich heute sehe, »Monovision « oder »Goethe-Blick«: Mit dem linken Auge sehe ich fern gut, mit dem rechten nahe gut, beide ergänzen sich also.
Auf Probleme reagiere ich gewohnheitsmäßig so, dass ich mich damit auseinandersetze, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Dann versuche ich, das Positive an der Sache zu sehen. Ich begann, Bücher über Menschen mit einer Sehbehinderung bzw. über Blinde zu lesen – unter anderem das tolle Buch von Saliya Kahawatte »Mein Blind Date mit dem Leben«. Ich lernte den sympathischen Unternehmer dann auch persönlich kennen, und später schrieb er das Vorwort zu meinem Buch »Ich will«.
Inspiriert durch Kahawattes Buch begann ich, mich mit anderen erfolgreichen Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Ich las mehrere Zehntausend Seiten Bücher sowie Berichte und Interviews über und mit behinderten Menschen und versuchte herauszufinden, was ihnen die Kraft gab, trotz ihrer Beeinträchtigungen aktiv und erfolgreich zu sein. Rasch entschloss ich mich, ein Buch über diese Menschen zu schreiben. Es erschien im Juni 2021 unter dem Titel »Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können«.
Zu den Büchern von Betroffenen, die ich im Vorfeld gelesen hatte, gehörten die Erinnerungen des Amerikaners Erik Weihenmeyer, der als erster Blinder die sieben höchsten Gipfel der Welt auf sieben Kontinenten erklomm, darunter den Mount Everest. Ich hatte die Gelegenheit, ein telefonisches Interview mit ihm zu führen. Ich interviewte Johann König, einen weltweit erfolgreichen Galeristen aus Berlin, der blind war, als er seine erste Galerie eröffnete. Und ich lernte Felix Klieser kennen, einen international erfolgreichen Hornisten, der ohne Arme zur Welt kam. Ich bewundere seine Einstellung. Er, der ja das Leben nur ohne Arme kennt, kam allein mit dem Auto zu unserem Treffen nach Berlin – er hatte es extra anfertigen lassen, sodass man es nur mit den Fü.en bedienen kann. Als wir zusammen im Chinaclub beim Abendessen saßen, aß er natürlich mit den Fü.en, aber die Situation war viel »normaler«, als man sich das vielleicht vorstellt.
Mein Buch enthält weitere Geschichten über insgesamt 20 bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten, die sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden, aber alle in ihrer jeweils eigenen Art Unglaubliches taten oder erreichten.
Wenn man das Leben erfolgreicher Menschen analysiert, stellt man fest, dass die meisten Erfolgreichen – so wie alle anderen auch – Handicaps haben, die sie als Gründe dafür vorbringen könnten, warum sie nicht erfolgreich sind. Der eine kommt aus schwierigen sozialen Verhältnissen, der andere wiederum steht im Schatten eines erfolgreichen Vaters, der nächste hat einen Migrationshintergrund oder keine gute Schulbildung. Manche fühlen sich zu jung für eine große Karriere, andere fühlen sich zu alt, um neu zu starten. In den Jahrzehnten, in denen ich mich mit erfolgreichen Menschen befasse, habe ich festgestellt, dass Erfolgsmenschen niemals ihre wirklichen oder vermeintlichen Nachteile als Ausreden anführen. Und genau dies trifft auch für die Menschen mit Behinderung zu, über die ich mein Buch »Ich will« schrieb.
Heute fühlen sich viele Menschen als Opfer: Opfer der Gesellschaft, Opfer von Benachteiligung oder Diskriminierung, Opfer widriger Umstände. Die Menschen, über die ich schrieb, haben sich nicht als Opfer gesehen. Sie wollten auch kein Mitleid. Sie sahen sich als Gestalter ihres eigenen Schicksals und glaubten daran, dass sie Dinge erreichen konnten, die selbst die meisten Menschen ohne Behinderung niemals erreichen könnten. Was glauben Sie, was Sie alles erreichen können, wenn Sie diese Kraft kennen und nutzen lernen, die es diesen Persönlichkeiten ermöglichte, Unglaubliches zu tun?
Man sagt oft, Gesundheit sei das Wichtigste im Leben, und ich selbst habe diesen Satz auch manchmal gedankenlos gesagt und daran geglaubt. Bis ich anfing, mich mit den erfolgreichen Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Als ich die Autobiografie von Ray Charles las, fand ich Trost darin: Selbst, wenn ich blind werden – was in meinem Fall extrem unwahrscheinlich ist – oder die Fähigkeit zu lesen verlieren würde, könnte ich gleichwohl ein glückliches, kreatives Leben leben. Denn Gesundheit ist zwar wichtig, aber wichtiger noch ist unsere innere Einstellung. Entscheidend ist, dass wir die verborgenen Kräfte kennenlernen, die in uns liegen.
Leider war mein Buch »Ich will« über die erfolgreichen Menschen mit Behinderung kein Erfolg. Es hat sich in Deutschland nicht gut verkauft und wurde – anders als meine anderen Bücher – nicht in andere Sprachen übersetzt.
Im 16. Kapitel dieses Buches (»Ich erobere die Welt«) schrieb ich, dass ich mir das Ziel gesetzt habe, die Welt mit meinen Büchern und Botschaften zu erobern. Dazu gehören auch viele Reisen. Noch kurz vor dem weltweiten Ausbruch der Corona-Krise war ich in China, im Dezember 2019. Eingeladen war ich von meinem chinesischen Buchverlag, in dem vier meiner Bücher erschienen sind.
Ich traf Vertreter eines privaten Thinktanks. Der Leiter, Professor Dingding Chen, gehört weder der Kommunistischen Partei noch einer der anderen acht »Parteien« in China an. Dass in Europa und den USA sozialistische Ideen eine Renaissance erfahren, ist für ihn unverständlich: »Hier in China glaubt kaum noch einer an die Ideen von Karl Marx.«
China ist ein Land der Widersprüche: Ich war in einem »Innovation and Entrepreneur Hub« in Shenzhen, wo junge Unternehmer an Robotern und anderen Erfindungen arbeiten, finanziert von Venture-Capital-Firmen und gefördert vom Staat. Vor dem Eingang steht in riesigen Lettern »What‘s NEXT?« – eine Erinnerung an die Firma von Steve Jobs, die er nach seinem Ausscheiden von Apple gründete. Im Eingangsbereich des Gebäudes findet man Filme und Fotos, die von modernem Unternehmergeist zeugen, daneben allerdings auch ein Foto von Karl Marx und dem »Kommunistischen Manifest«.
Beeindruckt haben mich der unternehmerische Geist und der Hunger der Chinesen nach Aufstieg und Reichtum. Ich war eingeladen, einen Vortrag an der Peking University HSBC Business School in Shenzhen zu halten. Der Beginn war Freitag, 19.30 Uhr. Der Raum war überfüllt mit über 800 Studenten (die Business School hat insgesamt 1.000 eingeschriebene Studenten). Manche mussten stehen oder auf den Fensterbänken des Hörsaals sitzen, weil kein Sitz mehr frei war. Thema des Vortrags waren die »Sieben wichtigsten Faktoren, um reich zu werden«. Wie viele Studenten einer westlichen Universität würden Freitagabend fast drei Stunden einen Vortrag hören und diskutieren, wie man reich wird? Ich vermute, in Universitäten in Europa und den USA würde man auf mehr Begeisterung mit Vorträgen über die Übel des Kapitalismus stoßen, ein Thema, das Chinesen dagegen weltfremd vorkäme.
Ich habe Vorträge in den Städten Shanghai, Shenzhen und Guangzhou gehalten. Auffällig war der große Frauenanteil unter den Zuhörern. In Deutschland sind bei Vorträgen zu Finanz- und Wirtschaftsthemen die Männer stets deutlich in der Überzahl, in China ist das anders. Es scheint so, dass sich hier mindestens ebenso viele Frauen wie Männer für die Ideen von Erfolg und Reichtum interessieren.
Nach meiner Vortragstour in China waren Reisen wegen der Corona-Krise erst einmal nur eingeschränkt oder gar nicht möglich. Ich habe erlebt, dass viele Menschen an der Corona-Situation geradezu verzweifelt sind – in manchen Fällen durchaus verständlich, wenn etwa die wirtschaftliche Existenz oder gar die Gesundheit ruiniert wurden.
Ich selbst stellte mich schnell auf die Corona-Situation ein. Ich haderte nicht damit, dass ich jetzt entgegen meinen Plänen nicht reisen konnte, sondern sagte mir: »Umso schöner wird es, wenn du wieder reisen kannst, und dann wirst du das alles nachholen.« Das habe ich dann auch gemacht – dazu später mehr.
Wirtschaftlich hat mich die Corona-Krise nicht getroffen. Ich habe den Crash am Aktienmarkt im März 2020 dazu genutzt, fast auf dem Tiefpunkt Anteile eines weltweit anlegenden Aktien-ETF günstig nachzukaufen. Ich habe nicht die Angst vieler Menschen vor dem Impfen geteilt, sondern mich drei Mal impfen lassen. Als ich diese Zeilen schreibe, habe ich die zweite Corona-Erkrankung hinter mir, aber beide waren bei mir nicht schlimm. Ärgerlich war, dass ich nach der zweiten Impfung lang andauernde Nebenwirkungen feststellte, unter anderem einen Tinnitus, den ich vorher nie hatte.
Einige Monate bevor die Corona-Krise Reisen erst einmal deutlich erschwert und teilweise sogar unmöglich gemacht hatte, war ich im November 2019 in die USA geflogen. Eingeladen hatte mich Bob Chitester. Falls Sie den Namen noch nicht gehört haben: das »Wall Street Journal« nannte Bob Chitester »The man who made Milton Friedman a star«. In der Tat: Auch ohne Chitester wäre der Nobelpreisträger Friedman einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts gewesen, aber er und seine Ideen hätten nie das Ausmaß an Popularität erreicht.
Chitester hatte mit Friedman die weltbekannte Serie »Free to choose« produziert. Im November 2019 lud er mich zu einem mehrtägigen Treffen in Milton Friedmans früherer Sommerresidenz »Capitaf« in den Bergen von Vermont ein. Ein einsames Haus mit einem traumhaften Ausblick, vor dem Haus eine Parkbank mit den Statuen von Milton Friedman und seiner Frau.
Chitester litt damals schon an Prostatakrebs und wusste, dass er nicht mehr gesund werden würde. Aber er war die ganzen drei Tage voller Energie und Begeisterung und wir diskutierten, wie wir Ideen des Kapitalismus in der heutigen Zeit wirksam verbreiten können. Den Kontakt zu Chitester hatten zwei britische Politiker hergestellt. Chitester hatte mein Buch »Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung« gelesen und vorgeschlagen, daraus eine Serie zu machen, sozusagen ein »Free to choose« für die heutige Zeit. Im Mai 2021 starb er, aber sein Nachfolger, Rob Chatfield, kam auf mich zu und griff die Idee auf. So kam es zu dem Film »Life Behind the Berlin Wall«, der heute an amerikanischen Schulen gezeigt wird (Sie können ihn auch mit Untertiteln in 12 Sprachen auf YouTube sehen). Im Oktober 2021 kam ein Filmteam aus den USA zu mir nach Berlin. Jim Taylor und seine Frau Barbara Potter sind zwei Top-Profis – Jim ist schon seit vier Jahrzehnten im Filmgeschäft tätig. Wir verbrachten eine ganze Woche in Berlin und Leipzig, gedreht wurde von 8 Uhr morgens bis es dunkel wurde. Der Film basiert auf dem dritten Kapitel meines Buches »Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung«. Es geht um den Vergleich Sozialismus – Kapitalismus. Ost- und Westdeutschland hatten schließlich die gleiche Sprache, die gleiche Geschichte und die gleiche Kultur – nur eben unterschiedliche wirtschaftliche Systeme. Deshalb eignen sich diese Länder (ebenso wie etwa Nord- und Südkorea) sehr gut für einen Systemvergleich.
Am 14. Juli 2022 war es endlich so weit und mein Film »Life Behind the Berlin Wall« hatte auf dem Anthem Film Festival beim Freedom Fest in Las Vegas Premiere. Das Freedom Fest ist das größte libertäre Filmfestival in den USA. Ich war nervös, ob genug Leute zu meiner Filmpremiere kommen würden. Aber meine Anspannung war unbegründet. Es war ein Riesenerfolg: Der Saal war gefüllt und das Publikum begeistert. Lacher gab es, als in dem Film berichtet wurde, dass man 12 bis 17 Jahre warten musste, um einen Trabi zu bekommen. Das große Interesse zeigte sich auch daran, dass – anders als bei manchen Filmen – niemand den Saal zwischendrin verließ und die meisten Zuschauer auch noch zu der Fragerunde danach blieben, die etwa 40 Minuten dauerte.
Am 16. Juli war der Höhepunkt der Veranstaltung mit einem großen Abendbankett, einem Vortrag des bekannten libertären US-Senators Paul Rand und vor allem der Verleihung der Awards für die besten Filme, die auf dem Freedom Fest gezeigt wurden. Der Film »Life Behind the Berlin Wall« bekam den Audience Choice Award als »Best Short Film« des Anthem Film Festival und erhielt eine Bewertung mit 4,9 von 5 möglichen Punkten.
Die Corona-Zeit nutzte ich auch, um ein weiteres Buchprojekt anzugehen. In den Diskussionen, die ich über das Thema »Kapitalismus « geführt habe, wurden mir oft Fragen gestellt, die in dem Buch »Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung« nicht beantwortet worden waren, so etwa: Wie steht es mit der Umweltzerstörung? Oder: Gehen nicht menschliche Werte im Kapitalismus verloren, wird nicht am Ende alles dem Profitdenken geopfert? Und wie verhalten sich Demokratie und Kapitalismus? Zeigt nicht das Beispiel der USA, dass nicht die Mehrheit der Wähler, sondern das große Geld die Politik bestimmt? Und was ist mit der Schere zwischen Arm und Reich, die, wie man in Medien lesen kann, ständig weiter auseinandergeht? Und was sagen Sie zu den großen Monopolen wie Google oder Facebook, die immer mächtiger werden? Schließlich: Ist nicht der Kapitalismus für die Kriege auf dieser Welt verantwortlich und hat er nicht schlimme Diktaturen – wie etwa die Hitler-Diktatur – hervorgebracht? Die Menschen, die am Kapitalismus zweifeln oder verzweifeln, fragen schließlich: Sollte man nicht Alternativen zum Kapitalismus ausprobieren? Diesen Fragen widmete ich mein Buch »Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten«, das im Februar 2022 erschien.
Ich argumentiere in dem Buch nicht theoretisch. Gegner des Kapitalismus lieben es, über Theorien zu diskutieren, weil bei solchen Diskussionen nicht so einfach zu entscheiden ist, wer recht und wer unrecht hat, und weil sie Freude daran haben, sich in die Höhen der Abstraktion aufzuschwingen. Theorien bzw. ökonomische Modelle sind für die meisten Menschen jedoch zu abstrakt und schwer verständlich. Das ist der erste Nachteil. Der zweite Nachteil, der noch schwerer wiegt: Manche Theorien sind verführerisch, weil sie mit dem übereinstimmen, was wir zu wissen glauben. Wenn sie in sich stimmig sind, eingängig formuliert und gut präsentiert werden und vor allem dem entsprechen, was wir sowieso zu wissen glauben, üben sie eine große Anziehungskraft aus. Ich finde es wichtiger, sich zunächst einmal zu vergewissern, ob die Fakten, auf denen eine Theorie basiert, wirklich zutreffend sind. Und das ist der wunde Punkt bei den Theorien der Antikapitalisten: Sie stimmen einfach nicht mit den historischen Fakten überein, sondern nur mit unseren Vorurteilen über die Welt.
Für einen Teil des Buches gab ich eine Umfrage bei Ipsos MORI über das Image des Kapitalismus in Auftrag. Das war ein sehr ambitioniertes Projekt und übrigens auch sehr teuer. Pro Land kostet eine solche Umfrage zwischen 10.000 und 15.000 Euro, und da ich sie (Stand Oktober 2022) in 30 Ländern durchführen ließ, waren das beträchtliche Ausgaben, die ich alleine getragen habe.
Es gab in der Vergangenheit gelegentlich Erhebungen, in denen die Einwohner eines Landes – oder auch mehrerer Länder – dazu gefragt wurden, wie sie zum Kapitalismus oder zur Marktwirtschaft stehen. Häufig erschöpfte sich die Befragung darin, dass die Befragten nur eine allgemeine Frage gestellt bekamen, nämlich ob sie den Kapitalismus für ein gutes Wirtschaftssystem halten oder nicht. Weil ich es genauer wissen wollte, hatte ich zusammen mit den Instituten Allensbach und Ipsos MORI eine internationale Befragung konzipiert und durchgeführt, die viel stärker ins Detail geht. Schon vor Beginn der Befragung hatte ich – aufgrund bisheriger Umfragen – vermutet, dass die Mehrheit in den meisten Ländern eher kapitalismuskritisch ist. Um das zu bestätigen, hätte es keiner neuen Umfrage bedurft. Ich wollte aber vor allem herausfinden, was die Gründe für die verbreitete Ablehnung des Kapitalismus sind. Welche negativen – und natürlich auch: welche positiven – Merkmale verbinden die Menschen mit dem Begriff Kapitalismus? Was genau kritisieren sie am Kapitalismus und was finden sie gut? Und wie unterscheidet sich die Wahrnehmung in einzelnen Ländern?
Ein Ergebnis der Umfrage war, dass die Zustimmung zum Kapitalismus in den allermeisten Ländern stieg, wenn das Wort nicht verwendet wurde, sondern nur beschrieben wurde, was damit gemeint ist. Das war keine Überraschung, das hätte sicherlich jeder so erwartet. Wichtiger aber als dieser zu erwartende Befund war etwas anderes: Auch wenn das Wort »Kapitalismus« nicht verwendet wurde, überwog nur in sieben von 30 Ländern die Zustimmung zum Kapitalismus bzw. zur Marktwirtschaft. Die größte Zustimmung gab es in Polen, gefolgt von den USA und Tschechien.
Das Buch fand in Deutschland, Österreich und der Schweiz große Beachtung – die FAZ brachte eine ausführliche und positive Besprechung und die Neue Zürcher Zeitung ein ganzseitiges Interview mit mir. Ich setze mir, wie ich in dieser Autobiografie bereits erwähnt habe, an jedem Silvesterabend Ziele für das neue Jahr. Zur Jahreswende 2021/22 formulierte ich jedoch – anders als sonst – nur ein einziges Ziel für das neue Jahr: Dieses Buch, in dem ich in zehn Kapiteln die Argumente der Antikapitalisten widerlegte, sollte in 20 Sprachen erscheinen und ich wollte noch im Jahr 2022 20 Lizenzverträge dazu unterschreiben.
Ich suchte nach Hilfe, und geholfen haben mir insbesondere Tom Palmer und Brad Lips vom ATLAS Network, einer weltweiten Vereinigung libertärer Thinktanks. Die ersten Monate des Jahres 2022 verbrachte ich mit vielen Zoom-Calls mit Thinktanks und Verlagen auf der ganzen Welt. Das Interesse an dem Buch war sogar noch größer, als ich gehofft hatte. Sogar in Nepal, der Mongolei, Pakistan und Korea, Uganda und Nigeria wird es erscheinen, und in fast allen europäischen Sprachen. Im November 2022 hatte ich bereits Verträge für 27 Länder unterschrieben – mein Ziel war also eindeutig zu klein gewesen. Ich habe aber dabei auch gelernt, dass es besser ist, sich ein oder zwei Jahresziele zu setzen statt fünf oder sechs, wie ich das sonst oft gemacht hatte.
Ich nahm mir vor, jedes einzelne Land, in dem das Buch erscheint, zu bereisen und dort Vorträge zu halten. Was ich mir in der Corona-Zeit vorgenommen hatte, dass ich all die Reisen, die nicht möglich waren, nachholen würde, tat ich jetzt. Ich war 2022 in 16 Ländern, in Albanien, zweimal in Georgien, mehrmals in den USA und in Polen, in Schweden, der Schweiz, Italien, Spanien, Brasilien, Chile, Uruguay, Paraguay, Argentinien, Vietnam, Portugal und Tschechien. Es würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen, über all diese Reisen zu berichten – dazu werde ich Ende 2023 ein neues Buch schreiben mit dem Arbeitstitel »Liberty Road Trip«. In all den Ländern halte ich nicht nur Vorträge zu meinen Büchern bzw. gebe Interviews mit TV-Sendern und Tageszeitungen, sondern ich treffe auch Politiker, Ökonomen, Vordenker und Aktivisten aus der libertären und liberalen Szene.
An dieser Stelle möchte ich nur über zwei Reisen beispielhaft berichten, und zwar über meine Reisen nach Argentinien und Vietnam. Im Mai und im Juni 2022 war ich in Lateinamerika, um die spanische Ausgabe meines Buches »Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung« vorzustellen – und um mehr über die politische und wirtschaftliche Situation in diesen Ländern zu erfahren. Es waren drei Wochen, in denen ich viel gelernt und Bekanntschaft mit etlichen tollen Menschen gemacht habe. In denen ich Armut und Reichtum gesehen habe.
Für mich persönlich war es ein sehr großer Erfolg. In allen fünf Ländern haben führende Tageszeitungen ausführlich über meinen Besuch berichtet, ich habe viele Fernsehinterviews gegeben, wobei die Höhepunkte sicher ein einstündiges Interview in dem führenden Fernsehsender Argentiniens und das vier Seiten lange Interview in der renommierten Sonntagszeitung »Perfil« waren.
Die Situation in Argentinien ist dramatisch. Kein anderes Land auf der Welt hat in den vergangenen 100 Jahren einen so starken Abstieg erlebt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung eines der höchsten der Welt. Der Ausdruck »riche comme un argentin« – reich wie ein Argentinier – war damals ein geflügeltes Wort. Das Verhältnis zwischen dem realen Pro-Kopf-BIP im Jahr 2018 und demselben Wert im Jahr 1913 zeigt: Das Verhältnis in Argentinien ist kaum gestiegen und ist das niedrigste aller Länder, für die Daten für beide Jahre verfügbar sind.
Besonders bedrückend ist die Inflation. Was Inflation konkret heißt, merkte ich beim Bezahlen des Hotels. Ich wollte nicht mit der Visa-Karte bezahlen, denn bei Kreditkarten zahlt man den offiziellen Umtauschkurs vom Peso in den Dollar bzw. Euro. Man kann auf dem freien Markt doppelt so viel Peso für einen Dollar bekommen. Argentinier sprechen vom Blue Dollar. Gemeint ist der parallele Dollarkurs des US-Dollar in Argentinien, also die Kosten für den Kauf und Verkauf eines physischen Dollarscheins auf dem Markt. In Wahrheit sei die Sache viel komplizierter, erklärte man mir, denn es gebe mindestens vier verschiedene Dollarvarianten.
Der Staat toleriert die Existenz sogenannter »Caves« (Höhlen), in denen man das Geld umtauschen kann. Auf der Straße wird man von »arbolitos« (spanisch für »kleine Bäume«) angesprochen, also von Menschen, die einem den Weg zu einer der vielen Caves zeigen. Offiziell sind das Pfandleihgeschäfte oder Stellen, wo man Schmuck oder Gold an- und verkaufen kann, tatsächlich sind es jedoch Handelsstellen für den Blauen Dollar.
Argentinier tauschen dort ihre Pesos, in der Hoffnung, für diese Dollar einige Wochen oder Monate später mehr Pesos zu bekommen. In einem Staat mit so hoher Inflation hat Geld seine Funktion als Wertaufbewahrungsmittel verloren und dient nur noch als Zahlungsmittel. Für die Argentinier ist die Inflation eigentlich der Normalzustand. Ich traf Fausto Spotorno, Chefökonom des Centro de Estudios Económicos des Beratungsunternehmens OJF. Er zeigte mir eine beeindruckende Statistik, wonach Argentinien seit 1945 fast immer mindestens zweistellige Inflationsraten hatte – mit Ausnahme der 90er-Jahre, wo Carlos Menem die Währung an den US-Dollar gekoppelt hatte, was zwar die Inflation für ein Jahrzehnt beseitigte, aber zu negativen Konsequenzen für den Export führte, weil die Waren nicht mehr konkurrenzfähig waren.
Inflation ist auch das Hauptthema der libertären Bewegung um Javier Milei. Der 51-Jährige, der sich als Anarchokapitalist bezeichnet, spielte früher als Torhüter für den traditionsreichen Fußballverein Chacarita Juniors, später studierte er Wirtschaftswissenschaften und war Chefvolkswirt bei privaten Finanzberatungsunternehmen sowie Regierungsberater. 2021 wurde Milei mit 17 Prozent der Stimmen für die Partei La Libertad Avanza in die Cámara de Diputados de la Nación Argentina als Vertreter der Stadt Buenos Aires gewählt. Alle erwarten, dass er als Kandidat bei der Präsidentschaftswahl 2023 antreten wird.
Ich sprach mit der libertären Aktivistin Lilia Lemoine, die Vizepräsidentin von Mileis Partei ist. Die sehr attraktive 41-Jährige, die ich auf höchstens 30 geschätzt hätte, ist Schauspielerin, hat viele Fans in den sozialen Medien und postet dort ein sexy Foto, mit einem Top, auf dem »Libre Mercado« (freie Marktwirtschaft) steht. Lemoine ist voller Begeisterung für Milei, der formell Ehrenvorsitzender der Partei ist. Sie ist überall bekannt in Argentinien, und als wir essen gehen, will der Ober gleich ein Selfie machen.
Mileis Anhänger seien überwiegend jung, arm und männlich, sagt sie. Die Meinung, die armen Leute wollten nicht arbeiten und hätten sich an staatliche Leistungen gewöhnt, die man hier oft hört, sei eine Lüge: »Das trifft nur für ganz wenige zu. Die meisten würden sehr gerne arbeiten, aber der Staat mit seinen hohen Steuern und Regulierungen gibt ihnen keine echte Chance. Diese armen Menschen sind verzweifelt, vor allem wegen der Inflation. Sie hoffen auf unsere libertäre Bewegung.«
Das ist das Besondere an Argentinien: Verzweifelte arme Menschen sind in anderen Ländern eher für Sozialisten und mehr Staat – oder aber für Rechtsextremisten. Arme Menschen, die auf mehr Kapitalismus setzen, das gibt es nicht oft in anderen Ländern.
Ich traf auch den Kongressabgeordneten Ricardo López Murphy. Er hofft ebenfalls auf eine marktwirtschaftliche Wende, ist aber nicht so radikal wie Milei, der beispielsweise die Zentralbank abschaffen will. López Murphy, der mit der deutschen Naumann- Stiftung zusammenarbeitet, ist von der Ausbildung her Wirtschaftswissenschaftler und war während der Präsidentschaft von Fernando de la Rúa Verteidigungs- und Wirtschaftsminister. Seit 2021 ist er Vorsitzender der 2020 von ihm gegründeten Partei Republicanos Unidos, die Teil des Bündnisses JTC Juntos por el Cambio (Cambiemos) ist. Auch er gilt als möglicher Präsidentschaftskandidat. Was er tun würde, wenn er das Sagen hätte in Argentinien? Vor allem den Protektionismus bekämpfen, die zahlreichen Regulierungen (z.B. im Arbeitsmarkt) abbauen und radikal die Steuern senken. Schon Unternehmen ab einer Größe von 200 Mitarbeitern würden heute gezwungen, einen Teil ihrer Produkte zu staatlich festgesetzten Preisen zu verkaufen.
López Murphy gilt als eine der Gallionsfiguren der Liberalen in Argentinien, ein anderer ist José Luis Espert. Auch er ist – wie Milei und Lopez Murphy – Wirtschaftswissenschaftler und vertritt konsequent libertäre Ansichten. Seit 2021 ist er Abgeordneter in der Provinz Buenos Aires für die Koalition Avanza Libertad. »Wir brauchen eine kapitalistische Revolution«, erklärte er mir. Und er ist optimistisch: »Libertäre Ideen explodieren in Argentinien«, so Espert. Milei war übrigens früher Mitglied in Esperts Partei, bevor er seine eigene Partei gründete. Was Espert ändern würde in Argentinien, wenn er könnte? Zuerst nennt er das Thema »Handelsfreiheit «: Er will den Protektionismus bekämpfen und stattdessen für Deregulierung und Steuersenkung sorgen. Zudem meint er, man müsse mehrere korrupte Gewerkschaftsführer ins Gefängnis stecken, um andere abzuschrecken.
Überraschend war für mich das Zusammentreffen mit drei jungen Frauen in Buenos Aires. Sie gehören zu LOLA, Ladies for Libertad. Valentina ist 21 Jahre alt, spricht fließend Englisch und wirkt sehr selbstbewusst. Sie kommt aus der Stadt Mendoza, hat sich schon mit 13 Jahren mit einer Recycling-Firma selbstständig gemacht, die sie offiziell dann mit 18 gegründet hat. Aber die erste Zeit war hart: »Jeden Tag kamen Räuber in meine Firma, um mir Dinge abzunehmen. Ich rief die Polizei, sie kamen sogar einmal für einige Stunden ins Gefängnis, um dann wieder freigelassen zu werden. Die Polizei schützt mich nicht. Und der Staat nimmt mir mit der extremen Besteuerung fast alles wieder weg, was ich verdiene.« Und sie mag nicht die Mentalität vieler Landsleute, die lieber vom Staat leben, als selbst zu arbeiten: »Es ist so schwer, Mitarbeiter zu finden«, klagt sie.
So kam sie zu den Libertären. Mit 17 Jahren schloss sie sich den Students for Liberty an. Mit 19 Jahren gründete sie eine eigene libertäre Gruppe. Die Vereinigung wuchs schnell, viele kamen, weil sie nicht einverstanden waren mit den Corona-Maßnahmen der Regierung: »Wir hatten sieben Monate Ausgangssperre, man durfte nur an bestimmten Tagen für drei Stunden aus dem Haus, um einzukaufen.« Diese Maßnahmen haben ihrer Gruppe Zulauf gebracht. Sie treffen sich in Wohnungen oder Restaurants und vergleichen zum Beispiel das Kommunistische Manifest von Marx mit Hayeks »Weg zur Knechtschaft«. LOLA ist eine Frauengruppe, die sich als »liberale Feministinnen« bezeichnet, in Abgrenzung zu traditionellen Feministinnen, die meist marxistisch ausgerichtet seien.
Während Argentinien ein Beispiel für den Abstieg von Nationen ist, ist Vietnam ein Beispiel für den Aufstieg – und für die Kraft des Kapitalismus. Mit einem Bruttosozialprodukt pro Einwohner von 98 Dollar war Vietnam 1990 das ärmste Land der Welt, noch hinter Somalia (USD 130) und Sierra Leone (USD 163). Vor Beginn der marktwirtschaftlichen Reformen Mitte der 1980er-Jahre führte jede Missernte zu Hunger und Vietnam war angewiesen auf Hilfe vom World Food Programme und auf finanzielle Unterstützung der Sowjetunion und anderer Ostblockstaaten. Noch 1993 lebten 79,7 Prozent der Vietnamesen in Armut. Aber bis 2006 hatte sich die Quote auf 50,6 Prozent reduziert. 2020 lag sie bei nur noch fünf Prozent.
Vietnam ist heute eines der dynamischsten und am raschesten aufstrebenden Länder der Welt, mit vielen Chancen für fleißige Menschen und Unternehmer. Von einem Land, das nicht genug Reis produzieren konnte, um die eigene Bevölkerung zu ernähren, ist es zu einem der größten Reis-Exporteure der Welt geworden – und zu einem bedeutenden Elektronik-Exporteur.
Vor einigen Jahren erschien mein Buch »Setze dir größere Ziele« in Vietnam und ich begann, für einige Zeitungen dort zu schreiben bzw. Interviews zu geben, auch im Fernsehen. Im August und September 2022 erschienen dann auch meine beiden Bücher »Psychologie der Superreichen« und »Die Gesellschaft und ihre Reichen« in Vietnam. Es gibt wohl kaum ein Land auf dieser Welt, wo das Streben nach Reichtum für die Menschen so wichtig ist wie in Vietnam.
Im September 2022 reiste ich für elf Tage nach Vietnam, um meine beiden Bücher vorzustellen und meine Kontakte zu Wissenschaftlern in diesem Land auszubauen. Ich sprach vor etwa 1.000 Menschen auf einer Veranstaltung. Eingeladen hatte ein Hightech- Dienstleister aus dem Immobilienbereich. Thema meines Vortrages war mein gerade in Vietnam erschienenes Buch »Psychologie der Superreichen«.
Nach dem Vortrag war ich essen mit einigen Geschäftsleuten, unter anderem dem Gründer einer Private-Equity-Firma, die in Hightech-Unternehmen in Vietnam investiert. Ich fragte ihn, was er von den offiziellen Bekenntnissen zum Sozialismus hält. Offiziell nennt sich Vietnam ja, so wie China, immer noch sozialistisch. »Naja, manche Leute reden vielleicht noch vom Marxismus- Leninismus, aber in Wahrheit handeln hier alle kapitalistisch«, meinte der Investor. Ich sagte ihm, in China könne man beobachten, dass nach Jahrzehnten, in denen immer mehr auf den Markt gesetzt wurde, es seit einigen Jahren wieder eine Gegentendenz in Richtung mehr Staat gebe – ob das auch in Vietnam gelte? »Nein, auf keinen Fall. Wir setzen hier auf Marktwirtschaft und derzeit beobachten wir sogar, dass manche Investoren, die früher China favorisiert haben, jetzt mehr auf Vietnam bauen.«
Auch mein Gesprächspartner Dinh Tuan Minh, der ein kleines liberales Thinktank in Hanoi gegründet hat, bestätigte das: »Eine Tendenz, wieder weg von mehr Markt und hin zu mehr Staat zu gehen, wie man das in den letzten Jahren in China beobachten kann, gibt es hier nicht.« Von den Steuersätzen für Besserverdiener kann man in Deutschland oder New York nur träumen, der Spitzensteuersatz liegt bei 35 Prozent, und dafür muss man etwa 14-mal mehr verdienen als ein Durchschnittsverdiener. Armutsbekämpfung, das lehrt auch Vietnam, geschieht nicht durch Reichensteuern und Umverteilung, sondern durch mehr Marktwirtschaft.
Neid gegen Reiche ist Vietnamesen sowieso ziemlich fremd. Hier wird Reichtum bewundert. Von elf Ländern, in denen ich eine Befragung zur Einstellung zu Reichen durchgeführt habe, war nur in Japan die Einstellung genauso positiv wie in Vietnam. Vietnamesen beneiden nicht die Reichen, sondern wollen selbst reich werden. In Europa und den USA erklärten in der Umfrage im Schnitt 28 Prozent der Menschen, es sei ihnen wichtig, reich zu werden, in Asien waren es im Schnitt 58 Prozent und in Vietnam 76 Prozent.
Interessant ist aber auch, dass in allen Ländern, in denen ich die Befragung durchführte, Männer häufiger als Frauen sagten, es sei ihnen wichtig, reich zu werden. Nur in Vietnam wollen deutlich mehr Frauen als Männer reich werden. 72 Prozent der Männer und 80 Prozent der Frauen in Vietnam erklärten in der Umfrage, dies sei ihnen wichtig.
Din Tuan Minh betont die wichtige Rolle von Frauen in der Wirtschaft. Laut einer Befragung von Grant Thornton im Jahr 2019 sind 36 Prozent der Führungskr.fte in Vietnam Frauen, verglichen mit 19 Prozent in Thailand. In Deutschland sind es 29 Prozent. In Hanoi habe ich an mehreren Universitäten Vorträge gehalten, unter anderem an der renommierten NEU (National Economics University) und an der Foreign Trade University. An der Foreign Trade University war ich zu einem Workshop über die Motivation zum Reichwerden eingeladen. Das Motto lautete: »Rich people, rich country.« An der Foreign Trade University studieren 20.000 Studenten, davon ca. zwei Drittel Frauen. Die Universität hat 850 Professoren und andere Mitarbeiter, der Frauenanteil hier sei sogar noch etwas höher.
Feminismus ist dafür nicht notwendig in Vietnam. Die Unternehmerin Xuan sagte mir: »In Vietnam geht es weniger darum, irgendwelche Rechte für Frauen zu fordern, als selbst etwas dafür zu tun, dass man als Frau Erfolg hat. Wir wollen uns nicht auf die Männer verlassen, sondern auf uns selbst.« Das hatte ich schon in China beobachtet: Die aus europäischer Sicht vermeintlich »kollektivistischen « Asiaten sind in dieser Hinsicht viel individualistischer als die Europäer oder die Amerikaner: Fordere nicht, dass der Staat etwas für dich tun soll, sondern tue es selbst.
Xuan selbst ist ein gutes Beispiel dafür: Sie hat schon mit 23 Jahren ihre erste Firma gegründet, eine Kette für Sandwiches (ähnlich wie Subway). Sie besitzt 12 dieser Restaurants in Vietnam und 20 in Koreas Hauptstadt Seoul. Danach hat sie eine Kette für Apotheken gegründet und vor drei Jahren einen Verlag für Audio-Bücher, der bereits 700 Titel publiziert hat.
Unternehmertum wird groß geschrieben an den Universitäten, sogar an der staatlichen VNU Vietnam University of Economics & Business. Hier wurde ich zu einem Vortrag im Rahmen der »Business Challenge Session« eingeladen. Mehrere Teams von Studenten entwickeln über einige Monate hinweg Geschäftsideen, wobei ihnen Mentoren – Unternehmer oder ehemalige Unternehmer – zur Seite stehen. Am Ende gibt es für die Gewinner Geldpreise. So soll unternehmerisches Denken bei den Studenten gefördert werden.
Ein Problem in Vietnam ist die Korruption. Zwar hat sich Vietnam hier verbessert, aber die Korruption ist immer noch stark verbreitet. Ein Geschäftsmann sagt mir: »In den Zeitungen werden die offiziellen Listen der Gehälter der Partei- und Staatsfunktionäre veröffentlicht, und viele bekommen nur 500 oder 1000 Dollar im Monat. Trotzdem fahren viele dann einen teuren Mercedes und haben einen aufwendigen Lebensstil. Da fragt man sich natürlich: Woher kommt das Geld?«
Am vorletzten Tag halte ich einen Vortrag im deutschen Goethe- Institut. Dort gibt es angeregte Diskussionen und auch kritische Fragen. Ein Zuhörer fragt: »Ist Wohlstand mit Unfreiheit nicht auch eine Form der Sklaverei?« Offenbar wollte er zum Ausdruck bringen, dass wirtschaftliche Freiheit allein nicht reicht, wenn es keine geistige und politische Freiheit gibt. Das sehe ich auch so, andererseits wehre ich mich dagegen, die Bedeutung wirtschaftlicher Freiheit kleinzureden. Für die Millionen Vietnamesen, die noch vor 20 oder 30 Jahren in bitterer Armut lebten, macht es eben schon einen erheblichen Unterschied, wenn sich ihr Lebensstandard durch die Wirtschaftsreformen stark verbessert hat.
Diese Zeilen schreibe ich im Oktober 2022 in Miami, wo ich einen Vortrag bei der Jahrestagung der »Students for Liberty« halte. Für das nächste Jahr sind Reisen in mehr als 30 Länder geplant. Nach jeder Reisestation schreibe ich einige Seiten für mein Buch »Liberty Road Trip«, das dann 2024 erscheinen soll. Ich hoffe, ich habe Sie ein wenig neugierig gemacht – ich jedenfalls bin neugierig auf die Menschen in den vielen Ländern, in denen ich noch nie war.
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