Mao, Marx und Reich
(Auszug aus Kapitel 2)
Nachdem sich die 68er-Studentenbewegung zerstreut hatte, entstanden aus ihr zahlreiche linksradikale Gruppen, die alle gegen »Kapitalismus und Imperialismus« waren, sich untereinander jedoch aufs Schärfste bekämpften. Da gab es die Trotzkisten, die sich auf den russischen Revolutionär Leo Trotzki beriefen, da gab es sogenannte »Spontis« (einer von ihnen war der spätere Außenminister Joschka Fischer) und da gab es die Maoisten, die sich selbst »ML-Bewegung« (ML stand für Marxisten-Leninisten) nannten oder als K-Gruppen bezeichnet werden.
Viele spätere Politiker der Grünen gehörten diesen K-Gruppen an – so beispielsweise der spätere Umweltminister Jürgen Trittin, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Antje Vollmer. Auch bekannte, konservativ-liberale Journalisten wie der frühere »Handelsblatt«-Chefredakteur Bernd Ziesemer oder Alan Posener (»Die Welt«)waren in ihrer Jugend in K-Gruppen aktiv.
1971 zählte das Bundesinnenministerium 250 linksextreme Organisationen mit 84.300 Mitgliedern. Diese Gruppen gaben 420 Publikationen mit einer Gesamtauflage in Millionenhöhe heraus. Gerd Koenen schreibt in seinem Buch »Das rote Jahrzehnt«, der organisierte Linksextremismus der 70er Jahre werde heute erheblich unterschätzt und habe einen weitaus bedeutenderen Umfang gehabt als die 68er-Bewegung. Während das Kernpotenzial der 68er-Revolte bei maximal 20.000 Aktiven gelegen habe, seien in den 70er Jahren 80.000 bis 100.000 Personen in den diversen linksrevolutionären und kommunistischen Gruppen organisiert gewesen.
Eine dieser Gruppen war die KPD/ML. Davon gab es sogar gleich mehrere. Ende 1968 in Hamburg gegründet, spaltete sie sich mehrfach. Da die Parteien den gleichen Namen trugen, wurden zur Unterscheidung in Klammern oft die Zeitungen hinzugefügt, die sie herausgaben. Die beiden »größten« Parteien waren die KPD/ML (Roter Morgen) – die angeblich in Frankfurt sogar mehr Mitglieder hatte als die FDP – und die KPD/ML (Rote Fahne).
Bei der KPD/ML (Rote Fahne) war Dieter Kraffert engagiert, einer meiner Lehrer von der Ernst-Reuter-Schule. Bevor ich nach Darmstadt zog, gab er mir einen Zettel mit einer Adresse der Partei in Darmstadt. Da sollte ich mich melden. Ich trat mit 14 Jahren dem Jugendverband der Partei bei, dem KJVD (Kommunistischer Jugendverband Deutschlands). Richtiges Mitglied konnte man da allerdings nur schwer werden, wenn man zur »falschen Klasse« gehörte. Das heißt: Wer Arbeiter war, wurde leicht aufgenommen, »kleinbürgerliche Intellektuelle« wie ich (die allerdings die Mehrheit stellten) hatten es schwerer. Wir waren formal nur Sympathisanten, auch wenn wir jeden Tag für die Organisation tätig waren und Funktionen innehatten. Mich dieser Gruppe anzuschließen, war mit mehreren Opfern verbunden. Das erste Opfer waren meine langen Haare. Lange Haare wurden nicht geduldet. Die seien ein Zeichen kleinbürgerlicher Dekadenz. In der Partei der Arbeiterklasse musste der Haarschnitt »proletarisch« sein, also kurz. Wollte ich dazugehöre
Das Zweite, was ich opfern musste, war die Rote Zelle. Die Genossen der KPD/ML erklärten mir, es sei halt nun einmal in der derzeitigen Phase der Revolutionsvorbereitung nicht wichtig, »kleinbürgerliche Intellektuelle« zu gewinnen, wie sie an Gymnasien anzutreffen seien. Vielmehr müsse man das Proletariat, also die Arbeiter überzeugen (wir nannten das damals: »agitieren«). Viele Arbeiter gab es zwar nicht in der Partei, aber genau dies sollte geändert werden. Schließlich kämpften wir im Sinne von Marx, Lenin und Stalin für die »Diktatur des Proletariats«.
Für mich hieß das konkret: keine Rote Zelle mehr, sondern morgens in aller Frühe aufstehen und vor Beginn der Schule an den Fabriktoren die »Rote Fahne« und den »Kampf der Arbeiterjugend« verkaufen. »Kampf der Arbeiterjugend« hieß die Zeitung unserer Jugendorganisation. In Darmstadt war der Hauptsitz der großen Pharmafirma Merck. Und so fand ich mich als 14-Jähriger vor den Betriebstoren von Merck, verteilte dort unsere Betriebszeitung (»Der rote Merckarbeiter«) und verkaufte die »Rote Fahne«. Ziel war es, Adressen von Arbeitern einzusammeln, die man für die Betriebszelle gewinnen sollte.
Weil ich gut formulieren konnte, verfasste ich jetzt regelmäßig Flugblätter für den KJVD, in denen ich aus unserer Sicht politische Ereignisse kommentierte. Ich besitze beispielsweise noch ein Flugblatt, in dem ich ausführlich den Ausgang der Bundestagswahl 1972 analysierte. Sarkastisch endete das Flugblatt: »Das einzig Begrüßenswerte finden wir, dass beide große Parteien vor der Wahl erklärten, sie würden Steuererhöhungen durchführen: Hut ab vor dieser Offenheit.«
Für einen Jugendlichen von 14 oder 15 Jahren war das alles recht aufregend. Wir trafen uns nachts, um Parolen wie »Weg mit dem KPD-Verbot!« an Hauswände und Fabriktore zu sprühen. Einmal lief ich vor der Polizei davon, rannte gegen eine Parkbank und musste ins Krankenhaus, um mir mein Knie punktieren zu lassen. In der Nacht verbuddelten wir Parteiunterlagen im Wald, weil wir befürchteten, man werde unsere Partei verbieten. Bei den Sitzungen sprachen wir uns aus konspirativen Gründen nicht mit unseren wirklichen Namen an. Wir befürchteten immer, der Verfassungsschutz könnte uns abhören. Ich glaube, mein Tarnname war Dieter. Fast jeden Abend hatten wir Sitzungen, vor allem Schulungen. Wer sich einer dieser Gruppen verschrieben hatte, der fand eigentlich für nichts anderes mehr Zeit. Entsprechend vernachlässigte ich die Schule.
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